Dann findet die letzte Prüfung statt, ich stehe im sechsten Stockwerk eines Innenstadtgebäudes und liefer die komprimierte Version des in den letzten Jahren angesammelten Wissens ab. Ich beschließe, richtig dick aufzutragen und keine Eventualität unerwähnt zu lassen. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Beisitzer und Protokollführende ob meines Tempos sehr schnell mitschreiben müssen, was mir eine perverse kleine Lust verschafft und mich veranlasst, einen Abstecher in die somatoformen Störungen zu unternehmen, nur um auszuführen, warum der darliegende Fall nicht auf eine solche zurückzuführen ist. Ich sehe die Vorsitzende lächeln und weiß, dass sie weiß, was ich hier tue und dann baue ich extra für sie ein Benzodiazepinabhängigkeits-Szenario und den Abriss zweier krankhafter Persönlichkeitsakzentuierungen in die Diskussion ein, damit wir uns weiterhin anlächeln und verstehen können.

Ich gebe zu, diese Prüfung und was in der Vorbereitung dafür nötig war, hat mich nicht gerade zu einem milderen Menschen gemacht. Ich werde einige Zeit damit zubringen müssen, mein verhärtetes Gesamtgewebe wieder aufzuweichen. Es war auch die erste Prüfung dieser Art, in der ich so etwas wie Ambition entwickelt habe und hinterher nicht sofort alles vergessen wollte.

Ab Freitagnachmittag schwimme ich 48 Stunden lang auf einer Adrenalinwelle, fühle mich abwechselnd entrückt von und hineingerammt in diese Erde, kreische in Telefone und springe an Leuten hoch, die mich im Raum herumwirbeln. Unter anderem der kleine syrische Mann, der regelmäßig beim Tanzen dabei ist und alle anlacht. Ich frage ihn, ob er wieder sein Parfüm aufgelegt hat. Ein Mal im Jahr fährt er zu Verwandten in die Türkei und lässt sich bei der Gelegenheit in einer dort ansässigen syrischen Parfümerie einen eigens für ihr komponierten Duft mischen. Es ist eine opulente Mixtur und ich kenne niemanden außer ihn, der das tragen würde, aber ich mag die große Geste und bei der Begrüßung für Sekunden in seine ausladende und rosengetränkte Welt einzutauchen.

Es findet sich, dass eine Frau aus der Zenschule zeitgleich zu meiner Prüfung ein paper in ihrer Forschungseinrichtung abgegeben hat. Wir stehen nach dem Meditieren auf der Straße, öffnen Champagner und liegen einander in den Armen bevor wir in einer lauten überfüllten Bar die Köpfe zusammenstecken und Ausschweifungen der nächsten Tage planen.

Dann schneeregnet es die ganze Woche, ich mache Feuer, werfe mehrere Kilogramm Papier weg, koche jeden Tag und schlafe. Vor dem Ofen liegend bewege ich mich langsam zu einer Tonbandaufnahme aus den 80’er Jahren, auf der eine schwedische Feldenkraislehrerin mit hypnotischer Stimme sagt: If you want to learn something new, don’t take it serious. Allow yourself to play.

Der Blauregen rankt sich die Außentreppe hoch und platzt in hunderten violetten Knospen. Im Baumarkt leihe ich ein Schleifgerät, um zwei Tischplatten und Holzkisten zu bearbeiten, im Keller ziehe ich die alte Nähmaschine aus dem Regal und kürze damit einen Stapel Röcke. Die Wolle im Schrank habe ich bereits nach Farben und Garnstärke sortiert, der nächste Webteppich ist in Planung, ich kann nicht glauben, mich all diesen wunderbaren Dingen ohne Zeitdruck widmen zu dürfen.

Es ist daneben auch die Woche der ausfallenden S-Bahnen, gesperrten Streckenabschnitte und des eisigen Windes. Ich hätte nichts dagegen in lauen Sommernächten an unüberdachten Stationen im Nirgendwo stundenlang auf etwas zu warten, in diesem Wetter aber; es macht einen kaputt. Es macht einen kaputt bis ins Mark. Ich bin so überzeugt von und angewiesen auf den Öffentlichen Nahverkehr und deswegen hasse ich ihn manchmal zutiefst und gründlich.

Eine Freundin, die immer schon viel gewagt hat, um weniger privilegierte Menschen zu unterstützen, berichtet von einer Entscheidung, mit der sie sich nun die nächsten Jahrzehnte auf einen sehr herausfordernden Weg einlassen wird. Ich bin fasziniert und sprachlos, woher sie diese Bereitschaft zur Aufgabe ihrer Bequemlichkeiten nimmt. Neben ihr komme ich mir manchmal vor, als würde ich Pampers tragen.

Ab Mitte der Woche kündigen sich anreisende Kolleg*innen, eine ersehnte Weiterbildung und wärmere Temperaturen an, ich liege vorm Fenster und schaue in den fliederfarbenen Sonnenuntergang. Da geht er hin, der graupelige April.